Thomas Lang schreibt einen interaktiven Online-Roman
Wer einem renommierten Schriftsteller beim Schreibprozess auf die Finger gucken möchte, kann dies jetzt beim ehemaligen Bachmann-Preisträger Thomas Lang tun. Und mehr noch: der Leser ist aufgefordert, die Entwicklung der Geschichte mitzugestalten. Heute, am 01.09.2016, ist das Online-Experiment des Münchener Autors gestartet, sechs Monate soll der ganze Spaß dauern. An dessen Ende wird voraussichtlich ein Roman oder eine längere Erzählung stehen. Der Arbeitstitel des Projektes trägt den Namen: „Der gefundene Tod“. Der Titel steht fest, weil das inhaltliche Thema nicht nur eingegrenzt, sondern bereits vorgegeben ist. Thomas Lang greift eine tatsächliche Begebenheit auf, die 2006 im süddeutschen Traunreut geschah und fassungslos macht.
Der Inhalt
Beim Feiern finden drei Jugendliche in einem Gleisbett einen toten Menschen. Anstatt die Polizei oder den Rettungsdienst zu informieren, binden sie die Leiche an einen Baum und mißhandeln den toten Körper mit Schlägen mittels Eisenstangen und anderen gefundenen Gegenständen. Sie dokumentieren ihre Tat mit ihren Handys und veröffentlichen die Bilder in den sozialen Medien. Die Reaktion der Umwelt fällt erwartungsgemäß geschockt aus, eine soziale Ausgrenzung der jugendlichen Straftäter ist die Konsequenz.
Was es werden soll
Diese Exposition soll nun Grundlage werden für eine „Coming-of-age-Geschichte, aber eine der dunkleren Sorte. Sie handelt von einer unguten Art, erwachsen zu werden, von einem einschneidenden Erlebnis dreier jugendlicher Außenseiter. (…) Im Mittelpunkt steht das Mädchen Elle, das sich nach Zuneigung sehnt, aber auch nach moralischer Orientierung und der Anerkennung seiner Schuld.“ So ist es auf der entsprechenden Website (http://netzroman.thomaslang.net/aktuelles-manuskript/) zu lesen.
Der inhaltliche Rahmen, innerhalb dem der Leser am interaktiven Schreibprozess teilhaben und mitwirken kann, scheint somit relativ eng gesteckt. Die Zusammenarbeit wird denn in erster Linie wohl dergestalt sein, dass der Autor Einblick gibt in seine Entwürfe, Notizen und Recherchematerial, mitunter auch mehrere Varianten eines Textabschnitts oder einer Handlungsentwicklung zur Debatte stellt. Auch der Schreibprozess selbst soll im Forum mit den Lesern diskutiert, grundlegende Fragen des literarischen Schreibens sollen erörtert werden.
Interessant ist das prinzipiell schon.
Folgende Sätze von der Projektseite werden sicherlich genauso im Förderantrag gestanden haben und ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass das Projekt den Förderzuschlag des Deutschen Literaturfonds e. V. hinsichtlich eines seiner begehrten Autorenstipendien erhielt:
„So können die Leser jeden Fortschritt, jede Entwicklung und Veränderung in real time verfolgen, kommentieren, eigene Entwürfe beisteuern und das Werk im Austausch mit dem Autor beeinflussen. Eine Gruppe von Schülern soll sogar eine eigene literarische Figur zur Ausgestaltung erhalten. Der Schriftsteller erweitert also ebenfalls seine Rolle; er agiert nun auch als Weber, als impulsgebender Teil eines kollektiven Kreativgeflechts.
In letzter Konsequenz setzt dieses Experiment spielerisch um, wovon Philosophie und Science-Fiction gleichermaßen seit langem träumen: Lesen und Schreiben als ein Vorgang. Der Literaturfreund schreibt den Roman mit – indem er ihn liest.“
Ist das nicht großartig?
Tja nun. Ich kenne viele Selfpublisher, die per se einen solchen Austausch mit ihren Lesern pflegen. Ganz so neu und bahnbrechend ist das nicht. Und ich habe einen Bekannten, der auf der Plattform ask.fm zusammen mit vielen seiner zumeist jugendlichen Follower (immerhin so um die 400 bis 500, wenn ich richtig unterrichtet bin) einen gemeinschaftlichen Fortsetzungsroman schreibt, in dem er die Ideen seiner „Mitarbeiter“ in den Text miteinarbeitet. Aber ein Autorenstipendium des Deutschen Literaturfonds e.V. wird er dafür sicher nicht bekommen. Zu Recht.
Ob Thomas Lang aber zu Recht eines bekommen hat, wird zu überprüfen sein.
Und ich weiß nicht, wie es meinen Lesern geht, aber die Abschlusssätze des obigen Zitats wirken etwas aufgeblasen auf mich. Das Gerede vom Textgewebe bzw. hier ersetzt durch das menschliche „kollektive Kreativgeflecht“ bringt ein bisschen literatur- und kulturwissenschaftlichen Anstrich in die Sache, aber bitte: wenn ein Schriftsteller seine Sache ernst nimmt, ist er dann nicht immer auch der Weber von Diskursfäden? Ob da nun die Impulse von Leserkommentaren kommen oder aus der Lektüre des Recherchematerials, ist dabei meines Erachtens eher ein Detail. Es sind in jedem Fall immer auch die Gedanken anderer Leute, die Eingang finden, mal mehr, mal weniger direkt, aber immer vom Autor gefiltert, aussortiert, geordnet, strukturiert und literarisch gestaltet.
Und zu guter Letzt: dieses kleine literarische Experimentlein soll nun umsetzen, „wovon Philosophie und Science-Fiction gleichermaßen seit langem träumen: Lesen und Schreiben als ein Vorgang“? Also wirklich. Da bräuchte es meiner Meinung nach schon etwas mehr. Ich bin vielleicht etwas empfindlich, aber ich kann aufgedunsenen Großsprech mittlerweile nur noch schwer ertragen. Ich möchte hier Thomas Lang keinen Vorwurf machen, denn ich nehme an und möchte hoffen, dass diese Formulierungen nicht auf seinem Mist gewachsen sind, sondern auf dem der entsprechenden Werbebeauftragten. Liebe Leute, die ihr euch da in PR versucht und dafür offenbar Sätze aus literaturwissenschaftlich angehauchten Projektanträgen verwendet, das Projekt von Thomas Lang ist, was es ist: ein ganz nettes Unterfangen, aber in seiner Form weder besonders experimentell noch originell. Einzig der Inhalt birgt Potential und Gefahr zugleich. Gut, wenn der Autor hier die Zügel fest in der Hand hält und den Mitwirkungsrahmen für etwaige Laien möglichst eng.
Meine Haltung dazu
Die psychologische Seite des geschilderten Falles würde mich durchaus interessieren, und ich würde mich freuen, wenn es Thomas Lang gelänge, die menschlichen Abseiten und Motive, die zu einem solchen Verhalten der drei Jugendlichen führten, nachvollziehbar auszuleuchten.
Weil mich interessiert, wie der Umgang mit dieser heiklen Thematik in der literarischen Umsetzung aussehen wird, werde ich vermutlich den Entstehungsprozess verfolgen und ggfls. noch einmal auf indieautor.com darüber berichten. Das interaktive Element des Projekts finde ich in diesem Fall weniger spannend, wenngleich ich mir vorstellen kann, dass es im eingerichteten Forum hitzige Debatten über das Verhalten der drei Jugendlichen und dessen Bewertung geben wird.
Mitschreiben käme für mich nicht infrage. Erstens, im Speziellen: die Thematik an sich ist nicht meins – ich suche mir meine Stoffe lieber selbst aus bzw. lasse mich von ihnen finden. Zweitens, im Allgemeinen: der Mitwirkungsrahmen scheint mir sehr eng gesteckt, die Kontrolle durch den Autor sehr groß – eine wirkliche Einflussnahme über den Status eines potentiellen Ideengebers hinaus ist fraglich. Drittens, im Prinzipiellen: Keine Zeit – ich habe meine eigenen Projekte, auch solche, bei denen ich mir beim Schreiben zusehen und darüber reflektieren kann, was ich da überhaupt mache.
Aber ich könnte mir vorstellen, dass es interessant sein könnte, Einblick in den Entstehungsprozess eines literarischen Werkes von Thomas Lang zu erhalten und damit auch die unterschiedlichen Editionsstufen seines Textes kennenzulernen, bevor er die Veröffentlichungsreife erreicht. Womöglich kann man auf diese Weise sogar etwas über das Schreibhandwerk durch Anschauung lernen – und das zudem am Beispiel eines renommierten Schriftstellers des deutschsprachigen Literaturbetriebs, bei dem Talent und handwerkliches Können sowie obendrein literarischer Erfolg zusammen kommen. Eine Möglichkeit, die die marktüblichen Schreibratgeber und Schreibwerkstätten unbekannter Autorinnen und Autoren vermissen lassen. Na, wir werden sehen.
Die Links:
http://netzroman.thomaslang.net/