Nicht jeder große Autor schreibt mit einer unverwechselbaren Stimme; einige bevorzugen es, ihre Präsenz aus dem Bewusstsein der Leserinnen und Leser entstehen zu lassen, und das ist eine völlig gültige Form des Geschichtenerzählens. Aber es ist auch wahr, dass die richtige Stimme eine gute Geschichte zu einer großartigen Geschichte machen kann, und dass einige Geschichten auf eine bestimmte Weise erzählt werden müssen, um die Wirkung zu erzielen, die sie verdienen.
Wenn das auf die Geschichte zutrifft, die Sie schreiben, dann sollten Sie an Ihrer Erzählstimme arbeiten (es sei denn, Sie haben bereits alles dahingehend gelernt – dann brauchen Sie Ihre Zeit nicht mit der Lektüre dieses Beitrags zu verbringen). Was Sie brauchen, ist eine Art der Interaktion mit dem Leser, die so unverwechselbar ist, dass er jedes Mal, wenn er den Ton und den Rhythmus Ihres Stils erkennt, sofort von all den Themen und Gefühlen umgeben ist, die er mit ihm in Verbindung gebracht hat. Es geht also um das Erzeugen einer bestimmten Atmosphäre bzw. ein spezielles ›Gestimmtsein‹ der Leserinnen und Leser bei der Lektüre Ihrer Werke.
Persona
Wenn es darum geht, mit einer bestimmten Stimme zu schreiben, kann es nützlich sein, eine spezielle ›Erzählpersönlichkeit‹ zu entwickeln. Dies ist ein Charakter (nicht ganz identisch mit Ihnen selbst), dessen Schreibweise Sie entwickeln und verfeinern können.
Wir alle haben eine ausgeprägte Art zu reden. Sei es die Art und Weise, wie wir unsere Sätze strukturieren, der Grad der Formalität, den wir bevorzugen, oder die Sätze oder sprachlichen Mittel, die wir regelmäßig nutzen. Es kann verlockend sein, diese Vorlieben einfach zu übernehmen, und oft gibt Ihnen das eine unverwechselbare Stimme als Autor, aber Sie werden möglicherweise einen Punkt erreichen, an dem Sie anders schreiben möchten als Sie normalerweise reden.
Indem Sie sich entscheiden, bewusst als Autorin oder Autor zu schreiben (und nicht als ›Privatmensch‹), geben Sie sich die Möglichkeit, aus Ihrer privaten Rolle auszusteigen und als eine andere ›Figur‹ zu schreiben. Stellen Sie sich Ihre Erzählstimme als die Figur des Erzählers in einem Theaterstück vor. Der Erzähler im Theater ist das Bindeglied, und er schafft durch seine Art der Kommentierung des Geschehens eine ganz bestimmte Atmosphäre – eine Zutat, die dem Stück andernfalls fehlen würde. Denken Sie daran, dass Ihre Stimme eine ›Aufführung‹ ist, nicht einfach nur die Art und Weise, wie Sie schreiben. Ihre Stimme ist Ihr Mittel, um Geschichten besser zu erzählen. Die Emotionen, die Sie mit Ihrer Stimme hervorrufen, werden den Leserinnen und Lesern im Gedächtnis bleiben, so dass beim nächsten Öffnen eines Ihrer Bücher alles wieder präsent sein wird. Wenn Sie eine eigene unverwechselbare Erzählstimme haben, werden die Leserinnen und Leser bereits eine gewisse Erwartung gegenüber Neuveröffentlichungen von Ihnen haben. Eine solche Stimme ist ein nicht zu unterschätzender, wesentlicher Bestandteil einer gut funktionierenden Autorenmarke.
Wie man eine unverwechselbare Erzählstimme entwickelt
Es ist nicht leicht zu sagen, was man machen muss, um eine unverwechselbare Erzählstimme zu entwickeln. Weil jede unverwechselbare Erzählstimme unverwechselbar ist, lassen sich natürlich keine allgemeingültigen Anweisungen geben, was zu tun ist, um die eigene unverwechselbare Erzählstimme herauszuarbeiten.
Ich persönlich arbeite bei der Umsetzung einer speziellen Erzählstimme sozusagen mit ›Einfühlungsmethoden‹. Es ist eine bestimmte Atmosphäre und Stimmung, die ich in meiner Geschichte erzeugen möchte, und bevor ich mich ans Schreiben mache, versuche ich mich jedes Mal wieder aufs Neue in diese Stimmung einzufühlen. Selbstverständlich handelt es sich hierbei nur um einen vage beschreibbaren Prozess. Aber es hilft mir, mir das Setting und auch die Charaktere der Geschichte bildlich vorzustellen (mit vielen Details) und dies zu kombinieren mit der Art der Dialoge, die die Figuren miteinander führen sowie dem Wissen darum, ›wohin die Reise gehen soll‹.
Ich nehme an, dass diese grobe Beschreibung nicht für jeden ganz leicht nachzuvollziehen ist. Daher möchte ich versuchen, im Folgenden ein paar Anhaltspunkte zu geben, an denen Sie sich bei der Entwicklung der eigenen Erzählstimme orientieren können. In diesem Zusammenhang lassen sich entscheidende Fragen festmachen, anhand deren Beantwortung die Entwicklung einer starken, unverwechselbaren Stimme unterstützt werden kann.
- Was wollen Sie sagen?
- Wer ist Ihre Persona?
- Mit wem reden Sie?
- Was ist Ihr Leitmotiv?
- Wie sollen sich die Leserinnen und Leser fühlen?
Das sprachliche Experimentieren, das notwendig ist, um eine Stimme zu kreieren, die sich von anderen abhebt, muss aus einer Art ›Gewissheit‹ stammen. Das bedeutet nicht, dass Sie die Antworten auf die Fragen kennen müssen, die Sie Ihren Lesern stellen, aber Sie müssen wissen, was diese Fragen sind, und warum Sie sie in Ihrem Buch stellen. Ein Autor braucht Selbstsicherheit, in dem, was er tut. Es reicht nicht aus, nur zu wissen, was man sagt, man muss auch wissen, wer man ist, wenn man es sagt.
Ein Beispiel
H.G. Wells (1866-1946) schrieb einige der überzeugendsten Science Fiction aller Zeiten, aber er schrieb sie als Wissenschaftler. Wells schwelgt in der Beschreibung und Erforschung so sehr, dass man manchmal fast das Gefühl bekommt, dass es ihn ein bisschen verärgert, eine Geschichte fortschreiben zu müssen. An vielen Stellen möchte er sich offensichtlich auf die Ideen konzentrieren, die er präsentiert.
»Der Planet Mars, ich muss den Leser wohl kaum daran erinnern, umkreist die Sonne in einer mittleren Entfernung von 140.000.000 Meilen. Und er erhält von ihr kaum halb so viel Licht und Wärme wie wir. Der Mars muss, wenn die Nebularhypothese nur einen Kern von Wahrheit hat, älter sein als unsere Erde, und lange, ehe unser Planet zu schmelzen aufgehört hatte, muss das Leben auf seiner Oberfläche bereits begonnen haben. Weil er kaum ein Siebtel des Volumens unserer Erde ausmacht, muss sich seine Abkühlung bis zu der Temperatur, bei der Leben beginnen konnte, beschleunigt haben. Er besitzt Luft und Wasser und alles Nötige zur Erhaltung von Lebewesen.«
Aus: Krieg der Welten (Neuübersetzung/apebook)
Wells ist ein Wissenschaftler, der Gedankenexperimente präsentiert, aber er nimmt seinen Leser mit, weil er aus dieser Perspektive selbstbewusst und fest schreibt und zudem den Leser direkt anspricht. Seine Stimme unterscheidet sich sehr stark von dem, wie ein Leser instinktiv denken würde, aber sie ist ein gültiger und interessanter Standpunkt. Wells favorisiert Beschreibungen, um den Leser inmitten von Ereignissen zu versetzen. Jede Ausarbeitung ist eher den Ereignissen und Umgebungen der Geschichte als den Figuren vorbehalten. Das ist eigentlich eine Art des Erzählens, die dem so oft und gerne zitierten »Show, don´t tell« entgegensteht, kann aber, wie man in diesem Fall sieht, durchaus funktionieren, wenn die Erzählstimme das Erzählte interessant genug präsentiert.
Das Leitmotiv seines Romans »Krieg der Welten« (1898) präsentiert Wells selbst vorab in Form eines Zitats von Johannes Kepler (1571-1630):
»Wer aber sollte hausen in jenen Welten, wenn sie bewohnt sein sollten? …Sind wir oder sie die Herren des Alls? … Und ist dies alles dem Menschen gemacht?«
Hieran lässt sich vortrefflich ablesen, dass sich Wells absolut im Klaren über die Fragen ist, die er mit seiner Geschichte stellt.
Weitere Beispiele zur Veranschaulichung
Es liegt an dem Autor bzw. der Autorin, die Beziehung zum Leser zu definieren und die Erzählstimme zu benutzen, um einen Ton festzulegen, den der Leser zur Orientierung erhält.
Kontrastieren Sie zum Beispiel die Stimmen von Chuck Palahniuk (»Fight Club«) und Terry Pratchett (die »Scheibenwelt«-Romane). Ich nehme an, die meisten werden mit den Werken der beiden Autoren – zumindest oberflächlich – schon einmal in Berührung gekommen sein.
Pratchett liefert übertriebene und absurde Erklärungen und nutzt Umgangssprachlichkeiten. Er gibt dem Leser ein gutes Gefühl, indem er ihn in einen vergnüglichen Erzählstil einbezieht. Er spielt mit Wortwitz und skurrilen Ideen. Pratchett positioniert den Leser als Freund. Der Leser ist ein gemütlicher Bekannter, dem er ohne große Eile und in einem jovialen Tonfall eine Geschichte erzählt.
Palahniuk ist fast genau das Gegenteil. Seine Stimme hat eine gewisse Härte, ist oft verzweifelt, manchmal etwas gehetzt, als ob er den Leser nur für einen Moment hätte. Die Beziehung erinnert eher an die eines ›Straßen-Propheten‹ in einer Rednerecke zu seinem (vorübergehenden) Publikum. Wenn ein Buch beginnt, spricht Palahniuk, als hätte er keinen wirklichen Glauben daran, dass der Leser ihm zustimmen wird. Dies macht die Erfahrung seiner Geschichten objektiver, distanzierter und gibt dem Leser das Gefühl, dass irgendwelche Schlussfolgerungen, die er zieht, seine eigenen sind.
Übungen
Um wirklich gut zu werden, muss man üben und experimentieren. Wählen Sie ein Thema nach dem Zufallsprinzip und versuchen Sie, Ihre Stimme darauf anzuwenden und diese Stimme anhand der oben erwähnten Fragen von Mal zu Mal etwas abzuändern. Tun Sie dies fünf- oder zehnmal und lesen Sie sich dann die Resultate durch. Schauen Sie sich genau an, welche Mittel Sie gewählt haben und welche funktionierten, dann schreiben Sie weitere fünf oder zehn Passagen und wenden Sie an, was Sie wissen. Haben Sie keine Angst auch vor etwas extremeren Experimenten. Denken Sie daran, dass Sie diese Übungen nicht veröffentlichen müssen.
Fazit
Ihre Erzählstimme ist eine sich ständig verändernde Sache. Sie sollten versuchen, sie ausreichend zu verstehen, um sie lenken und einsetzen zu können, aber nicht versuchen, sie nach starren Regeln umzusetzen. Letztlich variiert die Erzählstimme einer Autorin oder Autors auch immer von Werk zu Werk. Wenn Sie in unterschiedlichen Genres schreiben, kann es sogar sein, dass Sie völlig unterschiedliche Erzählstimmen verwenden.
Sobald Sie wissen, was Sie sagen, wer Sie sind, wenn Sie es sagen, und zu wem Sie es sagen, wird sich Ihre unverwechselbare Erzählstimme entwickeln. Identifizieren Sie die einzigartige Identität, als die Sie schreiben, und überlegen Sie dann, wie diese Identität am besten ausgedrückt wird. Die Stimme entwickelt sich im Laufe der Zeit, also machen Sie sich keine Sorgen, wenn Sie das Gefühl haben, den richtigen Tonfall noch nicht hundertprozentig zu treffen. Jeder Fortschritt, den Sie machen und jedes neue Buch, das Sie schreiben, wird dazu beitragen, eine starke und unverwechselbare Erzählstimme zu entwickeln.
Es bleibt ein Rätsel, warum hier nicht 365 *gefällt mir* angeklickt sind. Ich finds wiedermal ausgesprochen anschaulich & hilfreich beschrieben. Lieben Dank.
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Das ist aber nett, dankeschön. Ja, manchmal wundere ich mich auch… ;)
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