Nicht jede Figur kann ein Heathcliff (»Wuthering Heights«) oder ein Jonathan Harker (»Dracula«), ein Lemuel Gulliver (»Gullivers Reisen«) oder eine Dorothea Casaubon, geb. Brooke (»Middlemarch«) sein. Tatsächlich werden die meisten Figuren in Ihrem Roman – statistisch gesehen – Nebenfiguren sein.
Ob es sich nun um Gespräche mit Mitarbeitern und Familienmitgliedern oder um Auseinandersetzungen mit Taxifahrern und Ladenbesitzern handelt, Ihre Haupt- und Nebencharaktere werden viel Zeit mit ihren ›kleinen Kollegen‹ verbringen. Obwohl diese Figuren vielleicht nicht Ihr Fokus sind, gibt es keinen Grund, dass sie zweidimensional oder gar uninteressant sein müssen. Nur weil eine Figur nicht im Mittelpunkt einer Szene steht, bedeutet das nicht, dass man sie vernachlässigen und wie eine Topfpflanze behandeln kann.
Das Problem mit ›kleinen Charakteren‹ ist, dass sie da sind, weil wir sie brauchen. Während Hauptcharaktere hundert Eigenschaften und Facetten in sich vereinen können, sind Nebencharaktere oft nur Träger für Worte oder Ereignisse. Wenn jemand nur da ist, damit eine Redewendung verwendet wird, die den Protagonisten zu einer großen Erfindung inspiriert, kann es naheliegend sein, ihn als Charakter abzuschreiben, der nicht weiter ausgearbeitet werden muss. Die Behandlung einer Nebenfigur als einfaches Werkzeug garantiert jedoch, dass sie dem Leser nicht nahe kommt und egal sein wird.
Im wirklichen Leben ist niemand nur für die Wirkung da, die er oder sie auf jemand anderen hat. Und um wirklich realistische und fesselnde Szenen zu schreiben, müssen alle Ihre Figuren glaubwürdige, interessante Menschen sein.
Perspektive
Das Wichtigste, was man über Haupt- und Nebencharaktere wissen muss, ist, dass der eine Faktor, der ihre Rolle definiert, ist: wem der Leser folgen soll.
Die Hauptfigur ist nicht immer die interessanteste oder verwandtschaftsfähigste, sie ist nur die, die der Schriftsteller als Mittelpunkt der Erzählung wählt. ›Kleine Charaktere‹ sind klein, weil sie sich nur an der Peripherie der Geschichte befinden, die erzählt wird, nicht weil sie von Natur aus uninteressant sind.
Jeder ist notwendigerweise der Held seiner eigenen Lebensgeschichte. »Hamlet« könnte aus Polonius‘ Sichtweise erzählt werden, dann hieße die Tragödie »Polonius, Oberhofmeister von Dänemark«. Polonius selbst denkt nicht, dass er in irgendetwas eine Nebenrolle spielt. Und auch Sie, die Sie diesen Beitrag von mir lesen, glauben nicht, dass Sie eine Nebenrolle in der Geschichte eines anderen spielen. Sondern umgekehrt. Alle anderen spielen eine Nebenrolle in Ihrer Geschichte, in der Sie die Hauptrolle haben. Wenn man sich einmal vor Augen führt, dass das auf derzeit ca. 7,65 Milliarden Menschen zutrifft und manche (wenige) davon, die sich ganz besonders stark als Hauptfiguren empfinden, die Befehlsgewalt über Atomwaffen haben, kann einem ganz anders werden. Doch ich schweife ab.
Die Leser sind unglaublich empfindlich gegenüber zweidimensionalen Charakteren, besonders wenn man sie neben einen komplexen Protagonisten stellt. Ironischerweise kann das Versäumnis, Ihre Nebenfiguren zu charakterisieren, gerade dadurch die Aufmerksamkeit des Lesers auf sie lenken und eine Szene weniger realistisch erscheinen lassen.
Einfache Ausgestaltung
Wie kann man also eine Figur ausarbeiten, die nur für eine Szene in der Geschichte ist? Die Antwort hängt von dem Genre ab, in dem Sie schreiben, und von dem Raum, den Sie bereit sind, der Figur zu widmen. Aber hier sind ein paar Tricks, die bei bekannten Autoren funktionieren.
Der Exzentriker
Jemand, der einzigartig genug ist, um aufzufallen, auch wenn er nur in einem Kapitel ist. Die Illusion der Komplexität ist das Ziel, und der einfachste Weg, sie zu schaffen, ist, einem Leser eine Figur zu präsentieren, die nicht verstanden werden kann.
Jeder Charakter in Lewis Carrolls »Alice im Wunderland« (oder auch im zweiten Teil »Alice hinter den Spiegeln«) ist ein Exzentriker, einzigartig in Haltung und Aussehen. Jede Figur ist so seltsam, dass der Leser glaubt, dass sie mehr ausmacht, als in der einen Szene von ihr zu sehen ist.
Der Versuch, herauszufinden, warum der Greif so abweisend ist, ist sinnlos, denn offensichtlich arbeitet der Charakter nicht nach Regeln, die der Leser verstehen kann. Dies macht einen Mangel an Charakterisierung weniger offensichtlich, da der Leser eher geneigt ist anzunehmen, dass die Figur eine unerklärliche, aber bestehende Weltanschauung hat. Weiter entfernt scheint die Annahme, dass er einfach keine Weltanschauung hat und sich völlig willkürlich verhält.
Der Passionierte
Hier wird ein spezifisches Interesse verwendet, um einen Aspekt eines Charakters intensiv hervorzuheben und damit den Rest der Figur zu implizieren. Wir alle haben Leidenschaften, und Leidenschaft in einem Charakter verleiht ihm eine Qualität, mit der wir uns identifizieren können.
Stephen King ist ein großer Fan dieser Technik, die er manchmal als seine einzige Charakterisierung der Hauptfiguren einsetzt. Ob es nun eine Liebe zu einer bestimmten Sportart, einem Lied, einer Berühmtheit oder einem Auto ist, er verleiht einer Figur Dimensionalität, indem er ihre immense emotionale Verbindung zu einer einzigen Sache zeigt.
Die Enthüllung dieser Art von rohen, privaten Emotionen kann nur einen sehr begrenzten Aspekt einer Figur hervorheben, aber wenn der Leser etwas so Tiefes und Intensives gesehen hat, ist er bereit, mehr daraus zu schließen. So wie viele kleine Charakterisierungen eine tiefere Persönlichkeit implizieren können, kann ein Beispiel für eine intensive Leidenschaft die Illusion eines komplexen Charakters erzeugen.
Das Stereotyp
Wir alle sind mit bestimmten Stereotypen vertraut. Während niemand im wirklichen Leben so simpel gestrickt ist, ist die Verwendung von Stereotypen zur Definition von Nebencharakteren einfach und effektiv. Ein aggressiver Bodybuilder ist für das Publikum sofort erkennbar, ebenso wie eine freundliche Oma und eine verführerische Blondine. Die Verwendung des Erscheinungsbildes, des Wortschatzes und der Eigenarten von Stereotypen hilft dem Leser, eine Nebenfigur mit einer (bestimmten Art von) Persönlichkeit zu assoziieren.
Für einen fortgeschrittenen Gebrauch richten Sie ein Stereotyp ein und geben Sie dann einen Faktor hinzu, der gegen den Strich läuft. Vielleicht ist die Blondine ein Schachtalent, oder die Oma verhilft mit Arsen manchen ihrer betagten Freunde ohne deren Einwilligung zu einem reibungslosen Übergang ins Jenseits. Während es unglaublich einfach ist, einen Charakter als Stereotyp zu etablieren (durch die Natur eines Stereotyps neigen die Leser dazu, den ›Typ‹ eines anderen schnell zu akzeptieren), kann das Hinzufügen eines gegenteiligen Details einen erheblichen Effekt haben. Die Erkenntnis, dass zu einer Figur mehr gehört, als zunächst angenommen, ist ausreichend, um die Leser zufrieden zu stellen. Es ist dann nicht unbedingt notwendig, detailliert auszuführen, was genau es ist, das diese Figur noch ausmacht.
Die oben genannten Tricks sind effektiv, aber am Ende des Tages sind und bleiben es Tricks. Glücklicherweise ist es möglich, eine echte Charakterisierung von Nebenfiguren zu erreichen, aber es erfordert etwas mehr Arbeit.
Reale Charakterisierung
Der Schlüssel zur Erschaffung großer Charaktere, egal wie wichtig sie für die Handlung sind, ist es, mehr über sie zu wissen, als man den Leserinnen und Lesern sagt.
Denken Sie an all die Faktoren, die zu Ihrer eigenen Persönlichkeit beigetragen haben: Eltern, Religion, Klasse, künstlerischer Geschmack, Lebensereignisse, etc. Es ist eine häufig vertretene Annahme, dass man diese Dinge über seine Figuren wissen sollte, weil es den Leserinnen und Lesern helfen wird, sie als reale Personen zu akzeptieren. Das ist nicht falsch. Aber in der Tat ist das Wissen um diese Faktoren und Eigenschaften in erster Linie für Sie als Autorin oder Autor nützlich, weil sie die Figuren auf diese Weise als konsistente Persönlichkeiten vermitteln können.
Wenn Sie wissen, wie und warum jemand so geworden ist, wie er ist, dann ist es weniger wahrscheinlich, dass Sie eine für die jeweilige Figur ›untypische‹ Verhaltensweise schreiben. Vorlieben, Abneigungen und sogar Eigenarten einer Figur treten weitaus organischer auf, weil man ihre Persönlichkeit im Kern kennt und versteht.
Sie sollten sowohl Ihre Nebencharaktere als auch Ihre Protagonisten auf tiefer liegender Ebene kennen, und es gibt eine Technik dahingehend, die wahrscheinlich auch für Sie funktioniert.
Die Technik
Entscheiden Sie sich für drei Merkmale, die Ihre Nebencharaktere definieren. Sind sie freundlich oder gemein? Reich oder arm? Haben sie Kinder? Sind sie in einer Beziehung? Haben sie ein Haustier? Sind sie religiös? Haben sie starke politische Überzeugungen? – Drei Merkmale werden ausreichend sein, solange sie wichtige Faktoren dafür sind, wer eine Person ist.
Entscheiden Sie nun, welche Art von Tag die Nebenfigur bis zu dem Moment hatte, an dem Sie über sie schreiben. Wählen Sie zwei Dinge, die zu diesem Tag beigetragen haben. Diese Dinge können trivial sein: spätes Aufwachen, Sex haben, sich an einen Witz erinnern, Einkaufen gehen, unangenehme Post erhalten, erkältet sein, etc.
Fragen Sie sich jetzt, wie die Person, die Sie definiert haben, mit dem Tag umgehen würde, den sie hat. Erlauben Sie, dass diese ›Verfasstheit‹ die Interaktion der Nebenfigur mit dem Protagonisten beeinflusst bzw. ›färbt‹.
Dies mag nicht viel erscheinen, aber es fügt der Figur eine Menge subtiler Charakterisierung hinzu. Es gibt einen großen Unterschied zwischen dem Schreiben eines stereotyp korrupten Polizisten und einem, der seine Macht missbraucht, um emotional eine gescheiterte Ehe zu kompensieren, während er selbst davon überzeugt ist, moralisch ›auf der richtigen Seite‹ zu stehen. Reale Menschen sehen die Welt aus ihrer eigenen Perspektive, und der Unterschied zwischen einer ›kleinen‹ Figur, die ein Hindernis darstellen soll, und einer Person, die ihre eigenen Motivationen hat, ist schon in den kürzesten Interaktionen spürbar.
Dies ist das Endziel der Charakterisierung Ihrer Nebencharaktere: Individuen zu zeigen, die so real wie Menschen erscheinen, so dass die Leserinnen und Leser ihre Anwesenheit einfach akzeptieren. Es ist die höchste Auszeichnung für Nebenfiguren, Sinn zu machen, zu passen und so die ›Mechanik‹ der fantastischen Geschichte zu verbergen, deren Teil sie zufällig geworden sind, während sie in ihrer jeweils eigenen (bisher) ungeschriebenen Geschichte die Hauptrollen spielen. Letzteres können die Leserinnen und Leser freilich nicht sehen, aber im besten Fall können Sie es anhand der Darstellung der Nebenfiguren erahnen.