Die Schaffung eines würdigen Antagonisten ist für eine spannende Geschichte genauso wichtig wie der heroische Protagonist.
Ich weiß, dass es nicht nur als Leser, sondern auch als Schriftsteller leicht ist, dem Charme des Protagonisten zu verfallen und die meiste Aufmerksamkeit auf ihn oder sie zu richten. Aber stellen Sie sich Sherlock Holmes ohne Moriarty vor, Mowgli ohne Shir Khan, Rocky ohne Apollo Creed oder Ivan Drago. Diese Antagonisten sind für ihre jeweiligen Geschichten ebenso unerlässlich wie die Hauptfigur. Sie sind die zu überwindende Herausforderung, der Katalysator, der das Handeln des Protagonisten auslöst.
Um die Leistungen Ihres Protagonisten ins rechte Licht zu rücken, ist es wichtig, einen starken Gegner zu schaffen.
Lassen Sie uns einen Blick darauf werfen, wie dies erreicht werden kann.
Geben Sie Ihrem Antagonisten eine Vergangenheit
Sie werden wahrscheinlich Stunden damit verbringen, über die Charakterzüge und die Geschichte Ihres Protagonisten oder Ihrer Protagonistin nachzudenken, um ihm bzw. ihr wirkliche Mehrdimensionalität zu verleihen. Schließlich ist es der Protagonist, der die Geschichte vorantreibt und höchstwahrscheinlich das, was die Geschichte von Anfang an inspiriert hat. Aber es ist genauso wichtig, dem Antagonisten so viel Zeit und Hingabe wie möglich zu widmen.
Denken Sie darüber nach: Es gibt einen Grund, warum wir uns alle auf bestimmte Weise verhalten, warum wir eine Situation auf bestimmte Weise beurteilen oder anders reagieren, als andere es tun würden. Unsere persönlichen Geschichten geben dem, wer wir sind, Gestalt. Wenn Sie also darauf abzielen, einen respektablen, dreidimensionalen Antagonisten zu schaffen, sollte er oder sie eine solide Geschichte haben, die dieses schlechte oder gegensätzliche Verhalten motiviert.
Sie werden viele Variationen der Motivation finden: Gier, Wut, Unwissenheit, Wahnsinn, Vorurteile, Angst, Ehre oder Rache. Langweilig sind solche Antagonisten, von denen gegenüber den Leserinnen und Lesern einfach behauptet wird, dass sie ›böse‹ sind – und das soll dann als Motivation reichen. Machen Sie die Hintergrundgeschichte Ihrer Antagonisten plausibel. Wenn Sie eine ernsthafte, glaubwürdige Handlung schreiben wollen, machen Sie diese Vorgeschichte spannend und nachvollziehbar.
Ich empfehle, einige Zeit damit zu verbringen, die Geschichte aus der Sicht des Antagonisten zu betrachten, fast so, als ob man die Geschichte mit umgekehrten Positionen schreiben würde. Indem Sie dies tun, müssen Sie Zeit und Gedanken zur Schaffung effektiver und glaubwürdiger Eigenschaften Ihres Antagonisten verwenden, was ihn zu einer Person machen wird, die würdig ist, Ihrem Helden entgegenzutreten. Der Antagonist wird dann eine eigene Biographie, eine eigene Perspektive und eine nachvollziehbare Motivation haben. Sie werden auch feststellen, dass Sie neue Eigenschaften Ihres Antagonisten entdecken, an die Sie vorher noch nicht gedacht hatten.
Der Antagonist weiß nicht, dass er der Antagonist ist
Wenn wir soweit sind, dem Antagonisten eine eigene nachvollziehbare und vielleicht sogar legitime Perspektive zuzugestehen, können und sollten wir noch einen Schritt weiter gehen. Donald Trump vertritt nicht die Ansicht, dass er ein unglaubliches Arschloch ist. Er hält sich für einen guten, nein, einen phantastischen, um nicht zu sagen: für den besten Menschen. Adolf Hitler hielt sich auch nicht für den perversen, jämmerlichen Abschaum, der er war. Darth Vader und der Imperator sind sicherlich Sonderfälle, wenn sie die dunkle Seite der Macht propagieren, aber aus ihrer Sicht ist es wohl – im Sinne einer höheren Ordnung – die richtige Wahl. Es ist eine Sache der Perspektive (›black is beautiful‹). Auch Moriarty oder Ivan Drago wähnen sich auf der richtigen Seite. Sie verstehen, was ich meine. Antagonisten empfinden sich selbst nicht als Antagonisten. Aus ihrer Perspektive sind sie die Protagonisten. Ein Antagonist, der sich selbst für den Bösewicht hält, ist in der Regel ziemlich albern. In Ausnahmefällen mag eine solche Figurenzeichnung funktionieren, normalerweise aber nicht.
Nun kann es aber auch vorkommen, dass der Antagonist sich nicht bloß nicht für den Bösewicht hält, sondern auch gar nicht wirklich böse ist. Es kann sein, dass er einfach nur andere Absichten hat, die im Grunde völlig legitim sind, aber den Absichten des Protagonisten in die Quere kommen oder zuwider laufen. Wenn Sie beispielsweise einen historischen Roman schreiben, lässt sich so etwas leicht vorstellen: wir haben zwei mittelalterliche Herrscher, die miteinander in Streit geraten, aber beide haben aus ihrer Sicht nur das Beste für ihr jeweiliges Volk im Sinn. Präsentieren Sie beide Seiten der Geschichte.
Beide Seiten glauben, dass ihre Motivation die richtige sei, und beide handeln mit Überzeugung, also schreiben Sie beide Seiten mit Überzeugung. Präsentieren Sie die Geschichte des Antagonisten aus seiner Sicht und schwächen Sie sie nicht zugunsten des Helden. »Antagonist« bedeutet nicht unbedingt »Bösewicht«. Eine solche Geschichte, in der die Rollenzuteilungen nicht eindeutig sind, sondern alle Charaktere ihre berechtigten Motivationen haben, die miteinander in Widerstreit geraten, kann eine ungeheure Faszination ausstrahlen.
Daher ist es durchaus akzeptabel, einen sympathischen Antagonisten zu haben. Sie könnten sogar Sympathie für ihn erzeugen, indem Sie eine emotionale Hintergrundgeschichte erzählen, durch die der Antagonist in eine Situation gezwungen wird, in der er so reagiert, wie er es normalerweise nicht tun würde. Oder vielleicht ist er jemand, der die falschen Entscheidungen trifft, aber es aus seiner Sicht ›nur gut meint‹. Und wie wir alle wissen, ist ›gut gemeint‹ oft das Gegenteil von ›gut gemacht‹.
Die Sympathie mit dem Antagonisten macht die Geschichte interessanter und spannender – es wird die Leser wirklich über die Handlung und die Motive der Figuren nachdenken lassen.
Wenn der Antagonist interessanter ist als der Protagonist
Wenn Sie Ihrem Antagonisten so viel Aufmerksamkeit schenken, birgt das eventuell die Gefahr, dass Ihr Antagonist zum Hauptereignis Ihrer Geschichte wird und interessanter ist als der Protagonist. Ich persönlich finde das nicht besonders problematisch. Aber der Großteil der Leserinnen und Leser wünscht sich vermutlich, dass der Protagonist alles andere in der Geschichte überstrahlt. Insofern empfiehlt es sich wahrscheinlich, den Protagonisten nicht vom Antagonisten in den Schatten stellen zu lassen.
Eine Möglichkeit, dem entgegenzuwirken, wäre folgende: Wenn Sie beim Schreiben feststellen, dass der Antagonist tatsächlich der interessantere Charakter ist, denken Sie darüber nach, die Rollen umzukehren und aus einer anderen Perspektive zu schreiben – vorausgesetzt natürlich, dass dies noch eine funktionierende Geschichte gewährleistet.
Ob ein starker Antagonist, der womöglich noch interessanter ist als der Protagonist, aber wirklich ein Problem darstellt, müssen Sie letztlich selbst entscheiden. In jedem Fall ist ein solcher besser als ein uninteressanter Gegenspieler.
Lassen Sie die Leser raten
An dieser Stelle tut sich eine Frage auf: Warum sollte man überhaupt deutlich machen, wer der Antagonist und wer der Protagonist ist? Wäre es nicht interessanter und verlockender für die Leserinnen und Leser, wenn nicht ganz klar ist, wer auf welcher Seite steht? Sie könnten sogar eine Figur erstellen, die das Aussehen eines Antagonisten hat, aber tatsächlich…
Als Autorin oder Autor kennen Sie die Hintergrundgeschichten Ihrer Charaktere und können nach und nach etwas davon in die Handlung einfließen lassen, so dass die Leserinnen und Leser dazu verführt werden, Vermutungen bezüglich der unterschiedlichen Motivationen der verschiedenen Figuren anzustellen. Wenn dann die Zeit für die Enthüllung des wahren Antagonisten gekommen ist, werden die Leserinnen und Leser möglicherweise mit einiger Überraschung auf die Hinweise zurückblicken, die jetzt so klar vor Augen liegen.
Wie auch immer Sie sich entscheiden und Ihren Protagonisten anlegen möchten: Geben Sie Ihrem Protagonisten einen würdigen Gegner.